O. Meier u.a.: Der Gurlitt-Komplex

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Titel
Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst


Autor(en)
Meier, Oliver; Feller, Michael; Christ, Stefanie
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 38,00
URL
von
Marc Fehlmann

Am 7. Mai 2014 fand sich Bern plötzlich ins Epizentrum jahrelanger Erschütterungen rund um NS-Raubkunst und Restitutionsforderungen gerückt, als bekannt wurde, dass Cornelius Gurlitt (1932 – 2014), Spross einer bedeutenden Kunsthändlerfamilie, testamentarisch die Stiftung des Kunstmuseums Bern als Alleinerbin seiner Kunstsammlung bestimmt hatte. Gurlitt war wegen vermuteter Steuerdelikte im Herbst 2011 ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten. Kurz darauf stiessen Ermittler in seiner Münchner Wohnung auf über tausend Kunstwerke, von denen viele seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen gegolten hatten. Darauf wurden die Bilder beschlagnahmt und 590 davon in der Datenbank Lostart veröffentlicht, womit das Strafverfahrensgeheimnis gebrochen wurde. In der Folge durchlief die Causa Gurlitt eine bizarre Entwicklung, denn an ihr betrieben deutsche Behörden ein politisch motiviertes Verfahren, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung als «obszön» bezeichnete. Die Überraschung kam mit Gurlitts Tod und testamentarischer Verfügung, womit das Minenfeld um seinen Nachlass an das Kunstmuseum Bern fiel. Das öffentliche Interesse galt aber nicht nur dem alternden Mann mit dem von den Medien zum «Nazischatz in Milliardenhöhe» gepeitschten Schwabinger Kunstfund, sondern auch dessen Vater Hildebrand Gurlitt (1895 – 1956). Dieser gehörte zu den wichtigsten Akteuren des NS-Kunstsystems. Da bislang nur wenig über ihn und seine Geschäfte bekannt war, drängte sich bald eine verstärkte personen- und kontextbezogene Forschung auf. Schnell wurden zum Gurlitt-Hype einige nicht immer exakt recherchierte Bücher auf den Markt geworfen,1 aber keines beantwortete die Frage: Warum ausgerechnet Bern? Dieses Rätsel haben die drei Journalisten der Berner Zeitung Oliver Meier, Michael Feller und Stefanie Christ in einer materialsowie detailreichen, flüssig geschriebenen Untersuchung über die Berner Verbindungen zur Familie Gurlitt gelöst: Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst heisst das imposante Werk, das sich zur Aufgabe gemacht hat, Licht «auf die Mechanismen von Beziehungsnetzen, auf die zwiespältige Rolle von Kunstsammlern, Kunsthändlern, Museumsverantwortlichen, Medien, Anwälten und selbst ernannten Interessensvertretern» zu werfen.

Der Fall ist allerdings komplexer, als man sich wünscht, denn die Positionen von Opfer und Täter, von Helfer und Profiteur, von Moral und Machbarkeit changieren und ind nicht immer eindeutig identifizierbar: So war Hildebrand Gurlitt als Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau, wo er sich für die Avantgarde eingesetzt hatte, selbst Opfer der NS-Politik. Wegen seiner jüdischen Grossmutter galt er als «jüdischer Mischling zweiten Grades». Trotzdem wurde er in Paris akkreditierter Kunsteinkäufer für das geplante «Führermuseum» in Linz und profitierte vom System der NS-Diktatur. In dieser Zeit bildete die Schweiz seinen wichtigsten Absatzmarkt: Er vermittelte dem Kunstmuseum Basel Franz Marcs Tierschicksale und über August Klipstein verkaufte er Gemälde Wassily Kandinskys, die als «entartet» beschlagnahmt worden waren, an den New Yorker Sammler Salomon R. Guggenheim. Nach dem Krieg konnte sich Gurlitt rehabilitieren und wurde Leiter des Kunstvereins in Düsseldorf. Seinen während der NS-Diktatur zusammengetragenen Bilderschatz behielten er und seine Erben allerdings geheim. Seine Witwe erklärte noch 1960, dass die ganze Sammlung bei der Bombardierung Dresdens verbrannt sei.

Der Gurlitt-Komplex beleuchtet die engen Beziehungen von privaten Sammlern mit professionellen Händlern, insbesondere auch mit der Firma Gutekunst und Klipstein – der späteren Galerie Kornfeld in Bern – und dem Kunsthändler Roman Norbert Ketterer, der nach dem Krieg dazu beigetragen hat, die von den Nationalsozialisten verfemte klassische Moderne Deutschlands in den Kanon der westlichen Kunst zurückzuführen. Die Studie ist akribisch recherchiert, erweitert markant den bisherigen Kenntnisstand über die Verhältnisse in der Schweiz, wie sie im Bergier-Bericht grundlegend untersucht wurden,[2] und bietet spannende Details. Sie liefert auch einen informativen Einblick in die Mechanismen des Kunsthandels. Leider gelingt es ihr nicht, ohne Unterstellungen und einen moralisierenden Unterton das Tun und Handeln einzelner Akteure zu bewerten. Auch ist die Struktur des Bandes nicht immer schlüssig. Gleichwohl wurde hier eine beachtliche Leistung mit erheblichem Mehrwert vorgelegt.

Inzwischen ist der Druck auf die Schweizer Museen, endlich ihre Bestände auf deren Provenienzen systematisch zu durchleuchten, gestiegen. Mit der Übernahme der Sammlung Gurlitt will nun das Kunstmuseum Bern neue Standards setzen, sowohl was die Herkunftsforschung als auch was den Umgang mit Raubkunst betrifft. Man wird sehen, wie sich diese Standards manifestieren.

1 Koldehoff, Stefan: Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst. Frankfurt am Main 2009; Koldehoff, Stefan: Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst und der Fall Gurlitt. Berlin 2014; Hickley, Catherine: The Munich Art Hoard. Hitler’s Dealer and His Secret Legacy. London 2015; Hoffmann, Meike; Kuhn, Nicola: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt, 1895 – 1956. München 2016; Remy, Maurice Philip: Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands grössten Kunstskandal. München 2017.
1 Tisa Francini, Esther; Heuss, Anja; Kreis, Georg: Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933 – 1945 und die Frage der Restitution. Zürich 2001 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd. 1).

Zitierweise:
Marc Fehlmann: Rezension zu: Meier, Oliver et al.: Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst. Zürich: Chronos 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 64-66

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 64-66

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